Bundeswehr am Limit: Munitionsknappheit und langwierige Modernisierung
Info zur Person: Thomas Alexander Meuter (61) ist seit rund 35 Jahren wehrtechnischer Journalist und beschäftigt sich mit militärischen Fragen und Ausrüstungen von Streitkräften. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf der weltweiten Luftwaffen- und Heeresrüstung und militärische Analysen von Konflikten und Technologien, die dort zum Einsatz kommen. Das Thema Altmunition, Landminen und militärische Altlasten bearbeitet er redaktionell. Er ist erfolgreicher Fachbuchautor und Chefredakteur des Verlags MD&Partner in Meckenheim bei Bonn. Seit vielen Jahren beschäftigt sich Thomas Meuter mit dem Aufspüren und der Entsorgung von Altmunitionen in vom Krieg betroffenen Ländern.
DWN: Die Bundeswehr gab in den letzten beiden Jahren zahlreiche und leistungsstarke Waffensysteme an die Ukraine ab. Hat das Ausrüstungslücken hinterlassen?
Thomas Meuter: Die deutsche Regierung hat der Ukraine Waffensysteme zur Verfügung gestellt, die von dieser ausdrücklich gewünscht worden sind. Dies hatte aber zur Folge, dass in die bestehenden Waffensystembestände der Bundeswehr eingegriffen werden musste, um zum Beispiel Kampfpanzer, Luftverteidigungssysteme oder Panzerhaubitzen als Ausrüstungshilfe liefern zu können. Diese wurde aus den aktiven Bundeswehreinheiten abgezogen und bis heute nicht ersetzt. Die Bundeswehr verfügt über keinerlei Reserven an Wehrmaterial, die es der Bundesregierung ermöglichen würden, über sehr kleine Lieferungen an Waffensystemen hinauszugehen. Alle diese wichtigen Verteidigungsreserven sind durch politische Entscheidungen in Berlin aufgebraucht oder nicht mehr vorhanden. Die Bundeswehr ist seit Jahrzehnten, materialtechnisch gesehen, am Anschlag und dies ändert auch nicht durch die postulierte Zeitenwende in der Verteidigungs- sowie Ausrüstungspolitik. Eine sicherheitspolitische Vorsorge an Waffensystemen in der Reserve zu schaffen hat es in der Vergangenheit nicht mehr gegeben und war politisch nicht gewünscht. Der Kalte Krieg war vorbei und die Armeen in ganz Europa wurden massiv verkleinert, trotz einer volativen internationalen politischen Lage, wie es der Kosovo- oder Afghanistan-Konflikt deutlich aufzeigten. Dennoch wurde politisch so entschieden, obwohl es warnende Stimmen aus dem sicherheitspolitischen Bereich zur Genüge gab. Doch verhallten diese Warnungen ungehört und dies ging massiv auf Kosten der Bundeswehr. Der Ukrainekrieg machte nochmals deutlich, dass militärische Reserven geschaffen und vorgehalten werden müssen, um verteidigungsbereit sein zu können. Die gilt im personellen als auch im materiellen Bereich. Anhand eines Beispiels versuche ich, dies einmal deutlich zu machen: Deutschland konnte 1992 noch rund 4.000 Kampfpanzer des Typen Leopard 1 und 2 zur Verteidigung aufbringen. Im Jahre 2021 entschied der Deutsche Bundestag die Anzahl der Kampfpanzer auf 339 zu begrenzen. Also keine 10 Prozent der ursprünglichen Kampfkraft für die Bündnis- und Landesverteidigung. Die Zahl der Artilleriesysteme, die im Ukrainekrieg eine entscheidende Rolle auf dem Gefechtsfeld spielen, sank im gleichen Zeitraum in Deutschland von 3.000 auf nur 120 Panzerhaubitzen. Die Zahl der Kampfflugzeuge (hier Tornados) hatte sich im gleichen Zeitraum halbiert. Ersatz wurde keiner beschafft, noch nicht einmal politisch in Erwägung gezogen. Die Bundesregierung bestellte nur 22 neue Panzerhaubitzen für die Bundeswehr, um die Lieferungen an die Ukraine zu kompensieren. Geliefert wurde bisher aber noch keine einzige. Dies ist aber nicht die Schuld der Verteidigungsindustrie, sondern es gibt nur noch sehr wenige Hersteller, die zum Beispiel in der Lage sind, Geschützverschlüsse zu fertigen, die aus einen Stück Metall herausgefräßt werden und höchsten Sicherheitsansprüchen genügen müssen, um zum Beispiel hohen Drücken standhalten zu können, die bei einem Abfeuern einer 155 mm Kanone auftreten können. Es wurden einfach zu wenige Artilleriegeschütze gebaut in der Vergangenheit und damit wurde auch die Zulieferungsindustrie immer kleiner. Das Mehrfachabschuss-Raketensystem (MLRS, Multiple Launch Rocket System) wurden noch nicht bestellt sowie viele andere Waffensysteme. Eine Ausnahme bildet das amerikanische Kampfflugzeug F-35 oder der CH-47 Hubschrauber die dort bestellt wurden. Dann liegt aber auch die meiste Wertschöpfung in den USA. Nach einer Studie aus Kiel sind zwischen März 2022 und Juli 2024 122 Aufträge für 148 Artikel im Wert von 89,9 Mrd. EUR bei der Industrie dokumentiert. Signifikant steigen die Bestellungen und Käufe erst ab Ende 2023 in Deutschland. Dieser Anstieg an finanziellen Investitionen ist aber nicht ausreichend, um die seit 2004 entstandenen militärischen Fähigkeitslücken innerhalb eines angemessenen Zeitraums zu schließen. Trotz des 100 Mrd. schweren Finanzpakets für die Bundeswehr sind die raschen Voraussetzungen zur Modernisierung einer Bundeswehr nicht gegeben, was an der Rüstungskoordination und dem gesetzlichen Beschaffungsweg für Wehrmaterial in Deutschland liegt. Es wird Jahrzehnte oder noch länger dauern, bis die Bundeswehr modern aufgerüstet ist. Da reden wir heute über 50 oder gar mehr Jahre, was ein unverantwortlich langer Zeitraum von mehr als drei Generationen ist.
DWN: Die deutsche Rüstungsindustrie hat volle Auftragsbücher und kann beträchtliche Gewinne einfahren. Warum hakt es dann so stark bei der Beschaffung von Wehrmaterial in Deutschland?
Thomas Meuter: Der Grund liegt auf der Hand: Russland hat in seiner wehrtechnischen Industrie auf eine Kriegsproduktion umgestellt und deren wehrtechnische Staatsindustrie ist deutlich größer als die westliche Verteidigungsindustrie. In Russland werden deutlich mehr Artilleriegranaten aller Kaliber pro Monat hergestellt als in der ganzen Europäischen Union zusammen. Viele NATO-Partner haben Nachbeschaffungen von Wehrmaterial in Deutschland in Auftrag gegeben, um ihre Bestände aufzufüllen. Darüber hinaus muss die deutsche Industrie dafür sorgen, dass die aus Kiew beauftragten Waffensysteme auch pünktlich geliefert werden. Die wehrtechnische Industrie muss also personell wachsen und sich der internationalen Marktlage anpassen. Dies dauert seine Zeit, denn High-Tech-Arbeitsplätze sind nicht mal so eben geschaffen und neues Wehrmaterial muss auch zeitaufwendig gebaut werden. Als Beispiel: Die Unternehmen Rheinmetall, Hensoldt oder KNDC haben große Aufträge an Land ziehen können, brauchen aber viel Zeit, diese abzuarbeiten. Hinzu kommt der in Deutschland sehr komplexe Beschaffungsgang in Sachen Wehrmaterial. Dieser ist von seinem organisatorischen Weg und den gesetzlichen Rahmenbedingungen schon seit Jahrzehnten reformbedürftig. Die gesetzlichen Auflagen sind teilweise grotesk und nicht mehr zeitgemäß. Doch eine Reformierung des Beschaffungsgangs ist bisher nicht vorgesehen, um diesen deutlich zu beschleunigen. Es gibt ein paar Beispiele, wie lange Beschaffungen mitunter dauern können. So versuchte man rund 16 Jahre lang einen neuen Kampfrucksack für die Bundeswehr zu beschaffen. Es kamen immer wieder Neuerungen, neue Wünsche des Militärs und viele andere Sachen hinzu, die eine Beschaffung letztlich verhinderten. Auch der Waffenträger WIESEL 1, der 1990 zur Fallschirmtruppe kam, benötigte 17 Jahre in der Beschaffung. Die Zahl der Beispiele ist sehr lang und letztlich ist der Organisationsablauf der Beschaffung immer das Problem. Hinzu kommen Haushaltskürzungen im Verteidigungshaushalt und beschaffungspolitische Querelen. So verfügt die Bundeswehr bis heute nicht über bewaffnungsfähige UAV´s (unmanned aerial vehicle, A. d. R.), die seit Jahren benötigt werden. Zahlreiche politische Diskussionen darüber, verhinderten diese benötigte Beschaffung für die Bundeswehr und dies ist der Regierung bekannt. Getan wird aber bis heute nichts.
Nun hat man in der NATO erkannt, dass Russland in der Lage ist, einen langfristigen Krieg in der Ukraine zu führen. Die russische Produktion von Wehrmaterial ist schneller und nicht von gesetzlichen Regelungen kontrolliert, die hier im Westen Standard sind. Die russische Staatsindustrie baut in nur vier Monaten rund 500 gepanzerte Fahrzeuge aller Art. Mehr als alle europäischen NATO-Staaten. Und das Tempo wird in Russland dafür stetig erhöht. Deutschland ist davon weit entfernt, da zum einen die industriellen Kapazitäten dafür nicht vorhanden sind und zum anderen der politische Wille fehlt, diese endlich aufzubauen. Die deutsche Rüstungsindustrie müsste von der Politik einen klaren Fahrplan erhalten, was in den kommenden Jahren an Wehrmaterial für die Bundeswehr und vor allem wie schnell beschafft werden soll. Diese Aussage müsste verbindlich sein. Hinzu kommt der personelle Aufwuchs der Streitkräfte, der noch in den Sternen steht sowie ein belastungsfähiges Reservistenkonzept, um mehr als 100.000 Soldaten in der Reserve zu haben, die eine Aufwuchsfähigkeit garantieren können. Also alles Felder, die politisch entschieden werden müssen, bei der aber keine Entscheidung bisher gefällt ist. Doch die Zeit drängt, denn die deutschen Streitkräfte haben nach spätestens zwei Kampftagen weder Munition noch Ersatzmaterial. Dies birgt ein hohes sicherheitspolitisches Risiko und dies weiß die deutsche Politik seit Jahren. Das grenzt meines Erachtens an Landesverrat. Bisher ist aber immer noch nichts passiert. Wir haben Streitkräfte, die nach zwei Tagen kapitulieren müssten, wenn es zum Krieg kommen würde, weil keine Munition mehr da ist. Wir sind weiter von einer Kriegstüchtigkeit entfernt, als es öffentlich bekannt ist. Politisch ist zu wenig, bis nichts entschieden, um neues Wehrmaterial zu beschaffen oder eine grundlegende neue Streitkräftestruktur zu schaffen. Und die Industrie muss wissen, was und wann in hohen Stückzahlen geliefert werden muss. Die bei dem Hersteller Rheinmetall beauftragten 155mm Artilleriegranaten sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber ein Anfang.
DWN: Steht die Politik nun nicht zu ihrem Versprechen, geliefertes Wehrmaterial an die Ukraine schnellstmöglich zu ersetzen?
Thomas Meuter: Bekanntermaßen sind Versprechen der Politik vorsichtig zu genießen. Im August wurde bekannt, dass es einen Finanzstopp gibt, um neue Waffensysteme zu beschaffen. Darauf baute die Bundeswehr und wurde bitter enttäuscht. Deutschland hat massive Haushaltsprobleme und diese drücken auch auf den Verteidigungshaushalt und dessen langfristigen Planungen. Die Truppe ist seit vielen Jahren - und dies ist politisch gewollt- völlig unterfinanziert. Es fehlt der Bundeswehr an Luftverteidigungsmöglichkeiten, gepanzerten Fahrzeugen, Artilleriesystemen, Kampfflugzeugen, U-Booten, Kriegsschiffen und vielem anderen mehr. Die Liste ist endlos lang. Einen militärischen Beschaffungsplan für die kommenden Jahre, der auch belastungsfähig und vor allem politisch krisensicher ist, gibt es derzeit nicht. Die komplexe Verteidigungs- und Sicherheitspolitik sind die Stiefkinder der Deutschen und bleiben es auch. Der politische Wille fehlt völlig, diese Situation grundlegend zu ändern, um eine Kriegstüchtigkeit herstellen zu können. Daran ändert auch der Krieg in der Ukraine nichts, der in seinen sicherheitspolitischen Folgen sehr drastisch ist und aufzeigt, wie schwach Deutschland sowohl militärisch als auch sicherheitspolitisch für solche Situationen gerüstet ist. Die Truppe wird deshalb noch lange auf den Ersatz warten müssen, der ihr versprochen worden ist.
DWN: Wie lange kann es dauern, um diese Defizite zu beheben?
Thomas Meuter: Wir reden hier von Jahrzehnten. Die Aufrüstung der Bundeswehr dauert schon heute viel zu lange, da die beschaffungspolitischen Wege nicht geändert werden. Das zuständige Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAIN Bw) mit Sitz in Koblenz ist die größte technische Behörde in Deutschland und hier laufen alle Bundeswehrbeschaffungen zusammen, werden dort erprobt und freigegeben. In diesem wichtigen Amt sind aber heute mehr Juristen als Techniker tätig. Dies war einmal anders. Die Vorschriftenlage für Wehrmaterial ist derart komplex, dass eine Reform zur schnelleren Beschaffung für Wehrtechnik an den gesetzlichen Bestimmungen einfach scheitert. Das Koblenzer Amt ist hoch spezialisiert und verfügt über eine außerordentliche Fachexpertise in seinen Aufgabenbereichen, doch der Beschaffungsgang in Sachen Wehrmaterial ist gesetzlich vorgeschrieben und hier müsste angesetzt werden. Das Thema ist aber seit Jahrzehnten nicht angefasst worden und deshalb werden die Beschaffungsvorhaben der Bundeswehr auf der zeitlichen Achse nicht wesentlich kürzer. Diese dauern in der Regel 10 bis 15 Jahre und dies ist noch als recht schnell zu bezeichnen. Die Politik ist hier zeitnah aufgefordert zu handeln und dies sollte zügig geschehen. Da aber Verteidigungsthemen nicht oben auf der politischen Agenda in Deutschland stehen, ist eine Veränderung der Beschaffungssituation in den kommenden Jahren nicht abzusehen. Der Industrie und der Politik ist es längst klar geworden, dass Beschaffungszyklen im Bereich von Rüstungsgütern über Jahrzehnte untragbar für die Truppe sind. So wird es vermutlich noch länger dauern bis Waffensysteme wie die beiden Luftraumverteidigungssysteme PATRIOT PAC 3 oder IRIST SL zur Truppe kommen.
DWN: Gibt es einen Ausweg?
Thomas Meuter: Die gesamten Rahmenbedingungen für Rüstungsbeschaffungen in Deutschland stimmen nicht. Es dauert einfach viel zu lange. Um die Bundeswehr auf den Ausrüstungsstand zu Beginn der neunziger Jahre zu bringen ist auf der Zeitachse erst in vielen Jahrzehnten erst möglich – wenn überhaupt. Der Bedarf ist hoch, die Nachfrage der Truppe nach neuer Ausrüstung auch. Hinzu kommen die Bestellungen aus den NATO-Staaten, die meist reibungslos laufen. Aber die Exportpolitik Deutschlands ist vor dem Hintergrund der politischen Bedingungen dafür als sehr ungünstig zu bezeichnen. Während andere NATO-Staaten wie Frankreich oder Großbritannien Exporte der nationalen Rüstungsindustrie politisch stark unterstützten, wird dies in Deutschland nur sehr widerwillig gemacht. Wehrtechnik gehört aus Sicht von vielen Politikern immer noch in die Schmuddelecke und eine politische Unterstützung von wehrtechnischen Exporten wird meist politisch geschickt vermieden. Der internationale Bedarf nach deutschen Rüstungsmaterialien ist international immer noch sehr hoch. Viele Aufträge gehen aber an das Ausland verloren, da politisch die deutsche wehrtechnische Industrie nicht unterstützt wird. Politische Unterstützung erfährt aber Kiews Forderungen nach Waffensystemen, denen man in Berlin nachkommt. Hier ist der internationale Druck zu hoch und Deutschland ist heute der zweitstärkste Lieferant für die Ukraine nach den USA. Doch letztlich trägt der Krieg in der Ukraine nicht dazu bei, die schlechten Rahmenbedingungen zur schnellen Aufrüstung der Bundeswehr zu beseitigen, nur weil die Rüstungsindustrie heute volle Auftragsbücher vorweisen kann. Das ist eine politische Aufgabe, die seit Jahrzehnten überfällig ist und vermutlich auch weiterhin bleibt. Derzeit sehe ich keine politische Bestrebung, diesen Sachverhalt kurzfristig zu ändern. Die Folge ist, dass wir aus diesem sicherheitspolitischen Dilemma nicht herauskommen werden. Die vorhandenen wehrtechnischen Interessensverbände, die darauf seit Jahren hinweisen, sind politisch zu schwach aufgestellt, ineffektiv und dies, obwohl die politische Lobbyarbeit hierfür dringend geboten wäre. Es wäre fatal zu glauben, die Rüstungsindustrie in Deutschland könnte allein dieses Problem lösen. Ohne politische Handlungen und Unterstützung geht hier nichts. Und daran fehlt es. Daran ändert auch nichts die viel beschworene Zeitenwende.