Die USA verlegen weitreichende Waffen nach Deutschland, die sogar Moskau treffen könnten – was bedeutet das?
Die USA und Deutschland betonen, dass es um die Abschreckung Russlands und den Schutz des europäischen Nato-Gebiets geht.
Stationiert werden unter anderem Tomahawk-Marschflugkörper mit einer Reichweite von 1670 Kilometern. Damit liessen sich die beiden grössten russischen Städte, Moskau und St. Petersburg, erreichen.
Später sollen auch Hyperschall-Raketen vom Typ Dark Eagle mit einer Reichweite von 2775 Kilometern in Deutschland stationiert werden. Damit liesse sich fast der ganze europäische Teil Russlands abdecken.
Die USA reagieren auf die Stationierung von Mittelstreckenwaffen durch Moskau. Russland hat als erstes Land mit der Wiederaufrüstung in diesem Bereich begonnen.
Russland verfügt über Marschflugkörper des Typs SSC-8. Vom Vorposten Kaliningrad aus können sie fast ganz Europa erreichen, einschliesslich der Grossstädte Berlin, Paris und London.
Die Stationierung des Marschflugkörpers SSC-8 ab dem Jahr 2017 stand am Anfang der jetzigen Entwicklung. Weil diese russische Waffe mit einer Reichweite von mindestens 2000 Kilometern gegen den Abrüstungsvertrag INF (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty) verstiess, stiegen die USA 2019 aus diesem Abkommen aus. Zu jenem Zeitpunkt hatte Russland heimlich offenbar bereits 64 Mittelstreckenwaffen stationiert.
Zuvor hatte der INF lange als Erfolgsgeschichte gegolten. Seine Unterzeichnung 1987 markierte das Ende des Kalten Krieges und hatte die Verschrottung sämtlicher bodengestützter atomarer Mittelstreckenwaffen der USA und der Sowjetunion mit Reichweiten von 500 bis 5500 Kilometern zur Folge. Die gefürchteten sowjetischen SS-20 verschwanden ebenso wie die amerikanischen Pershing-Raketen, die einst gegen heftige Widerstände in Deutschland stationiert worden waren.
Nach dem Kollaps des INF-Vertrags vor fünf Jahren begannen die USA erneut mit der Entwicklung eigener Mittelstreckenwaffen – nicht primär wegen Russland, sondern diesmal vor allem mit Blick auf den Rivalen China. Denn China war nie Teil dieses Abkommens und besitzt bereits Hunderte von Mittelstreckenraketen. Die neuen amerikanischen Waffen können aber auch in Europa als Mittel der Abschreckung gegenüber Russland dienen, zumal kein europäischer Nato-Staat über solche Systeme verfügt. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius spricht von einer «Fähigkeitslücke», die unbedingt geschlossen werden müsse.
In ihrer Ankündigung vom 10. Juli haben Deutschland und die USA zwei Waffentypen konkret genannt: die Standard Missile 6 (SM-6) und den Tomahawk-Marschflugkörper. Sie stehen bei der amerikanischen Navy schon seit längerem im Einsatz und konnten in den letzten Jahren mit begrenztem Aufwand für bodengestützte Einsätze umgerüstet werden. Die US Army hat dafür das neue Startgerät Typhon entwickelt. Im vergangenen April wurde es erstmals für eine Übung auf den Philippinen ins Ausland verlegt.
Typhon-Startgeräte sind auf Lastwagen montiert und damit sehr mobil; so ist die Stationierung auch in Deutschland nicht zwingend an einen bestimmten Stützpunkt gebunden. Auf dem untenstehenden, vom Pentagon 2023 veröffentlichten Bild ist auf dem Sattelschlepper-Anhänger der weisse Raketen-Container, der vor dem Start in senkrechte Position gebracht wird.
Das neu entwickelte Typhon-Startgerät, das mit den dazugehörigen Raketen auch nach Deutschland verlegt werden soll.
SM-6-Raketen: Dass dieser Waffentyp für die Stationierung in Deutschland vorgesehen ist, erstaunt auf den ersten Blick. Denn die von der amerikanischen Navy verwendete Version fliegt weniger als 500 Kilometer weit; es handelt sich somit nicht um eine Mittelstreckenrakete. Doch offenbar ist eine neue Version mit einer Reichweite von rund 1600 Kilometern, ähnlich wie bei den Tomahawks, bald einsatzfähig. Diese Version soll zudem Hyperschallgeschwindigkeit erreichen, also schneller als 6200 Kilometer pro Stunde fliegen.
Tomahawk-Marschflugkörper: Marschflugkörper (Cruise-Missiles) fliegen viel langsamer, haben aber den Vorteil, dass sie während des gesamten Flugs über einen Antrieb verfügen, sehr tief fliegen können und dadurch für das gegnerische Radar schlecht erkennbar sind. Die USA haben Tomahawk-Marschflugkörper seit vier Jahrzehnten in ihren Arsenalen und mehrfach weiterentwickelt. Ältere Versionen kommen auf eine Reichweite von 2500 Kilometern, die neuste auf knapp 1700 Kilometer. Waren die Tomahawks lange Zeit ausschliesslich eine Waffe der Navy, stehen sie seit 2024 auch der Army zur Verfügung, für Einsätze von Land aus.
Auf der untenstehenden Grafik gut erkennbar sind die für Marschflugkörper typischen ausklappbaren Flügel und der unten angebrachte Einlass des Triebwerks.
Dark-Eagle-Hyperschallraketen: Nur andeutungsweise haben die USA einen dritten Waffentyp genannt. Sie kündigten die Stationierung von in Entwicklung stehenden Hyperschallraketen an. Mit grösster Wahrscheinlichkeit ist damit der sogenannte Dark Eagle gemeint. Sein formeller Name lautet «Long-Range Hypersonic Weapon». Trotz dieser Bezeichnung ist er mit einer voraussichtlichen Reichweite von rund 2800 Kilometern nicht als Lang-, sondern als Mittelstreckenrakete zu klassieren. Nach mehreren Verzögerungen ist laut dem Pentagon Ende Juni im Pazifik ein erster umfassender Test gelungen.
Die Rakete führt im Innern ihrer Spitze einen Gleitflugkörper mit, der sich nach Erreichen der gewünschten Flughöhe vom Rest der Rakete löst. Der mit einem Gefechtskopf ausgestattete Flugkörper gleitet darauf mit Hyperschallgeschwindigkeit (mehr als fünffache Schallgeschwindigkeit) in Richtung seines Ziels. Solch hohe Geschwindigkeiten erleichtern es, die gegnerische Flugabwehr zu überwinden. Vor den USA haben bereits Russland und China die Entwicklung von Hyperschallwaffen forciert.
Im Unterschied zu Russlands Mittelstreckenwaffen und Hyperschallraketen, die mit Atombomben bestückbar sind, sehen die USA keine nuklearen Gefechtsköpfe vor. Bei der geplanten Stationierung in Deutschland geht es somit um rein konventionelle Waffen.
Das ist ein wichtiger Unterschied zur Nachrüstung mit atomaren Pershing-Mittelstreckenraketen in den achtziger Jahren, die damals in Deutschland heftige Proteste auslöste. Auch die Zahl der ab 2026 stationierten Raketen dürfte vorerst gering bleiben. Ausgerüstet mit den neuen weitreichenden Waffen wird nach jetziger Planung nur eine Task-Force in einem amerikanischen Stützpunkt ausserhalb von Wiesbaden. Sie soll nur über zwei Mittelstreckenbatterien verfügen.
Die Abschreckungswirkung gegenüber Russland ist deshalb beschränkt. Wichtiger scheint ein anderer Aspekt, auf den die Regierungen in Berlin und Washington ausdrücklich hinweisen: Die geplante Stationierung unterstreicht das Bekenntnis der USA zur Nato und zur Verteidigung Europas. Ob dieser Wille auch einen Wechsel zu einer Administration Trump überdauern würde, steht hingegen auf einem anderen Blatt.