“Im Ernstfall müssen Nato-Staaten auch selbst angreifen können”
Schön, dass wir Expertinnen und Experten haben, die uns scheinbar unabhängig über Sicherheitsfragen informieren. Dazu gehört Claudie Major, gerne gesehener Gast in den öffentlich-rechtlichen Talkshows, um in Überzahl mit anderen Geladenen Menschen mit abweichender Meinung zu Nato- und Bundesregierungspositionen an den Rand zu drängen. Man ist ja offen und lädt auch Abweichler ein, aber nur um den Zuschauern klar zu machen, wo der Hase läuft. Major ist bei der vom BND gegründeten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) angestellt, die sich Think Tank nennt, vom Bundeskanzleramt finanziert wird, was als „institutionelle Zuwendung“ firmiert, und von einem Stiftungsrat kontrolliert wird, der garantiert, dass unter dem Anschein der Unabhängigkeit und Wissenschaftlichkeit („Wir forschen und beraten unabhängig“) die Position der Bundesregierung gewahrt wird.
Claudia Major fühlte sich daher auch berufen, in einem Artikel für das Handelsblatt, die Entscheidung des Bundeskanzlers und der Biden-Regierung, mit Nuklearsprengköpfen aufrüstbare amerikanische Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren, nicht zu hinterfragen, sondern zu rechtfertigen. Major gefällt sich als Märchenerzählerin von den Guten, die nur reagieren, und den Bösen, die die unschuldigen Guten ohne Interessen zum Handeln zwingen.
Deutschland wurde bereits neben den USA zum militärischen Hauptunterstützer der Ukraine. Jetzt wird die NATO Security Assistance and Training for Ukraine (NSATU), die anstelle des Pentagon die Waffenlieferungen und Ausbildung der ukrainischen Soldaten sicherstellen soll, in Deutschland angesiedelt. Die Bundesregierung meldet bereits Führungsanspruch an, um den Erhalt der transatlantischen Nato-Agenda zu sichern, wenn Donald Trump US-Präsident werden sollte.
Die Stationierung der landgestützten Marschflugkörper des Typs Tomahawk mit einer Reichweite von 2000 km, der SM-6-Raketen mit einer Reichweite über 360 km mit der Abschussvorrichtung MK-41 und der noch in der Entwicklung befindlichen Hyperschallraketen ist keine Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine, sondern war bereits spätestens 2021 geplant (Mit Nuklearsprengköpfen ausrüstbare Mittelstreckenraketen werden nach Deutschland verlegt). Eigentlich schon 2017, als die erste Multi-Domain Task Force (MDTF) in den USA aufgebaut wurde. Es geht dabei auch nicht nur um Russland. Das Pentagon will 5 MDTFs zur globalen Abschreckung/Bedrohung aufbauen: 2 im indopazifischen Raum (also gegen China), eines in der Arktis (wo der nächste Nato-Russland-Konflikt stattfinden wird), eines für globalen Einsatz und eines eben in Deutschland. Vermutlich wurde deswegen von Washington der INF-Vertrag gekündigt, weil angeblich Russland landgestützte Raketen stationiert hat. Dagegen hatte die USA mit der Abschussvorrichtung MK-41 in Rumänien für das Raketenabwehrschild nach dem einseitigen Ausstieg der USA aus dem ABM-Vertrag auch die Möglichkeit geschaffen hat, mit Nuklearsprengköpfen ausgerüstete Tomahawk-Raketen abzufeuern.
“Die Europäer erkennen an, dass ein Krieg in Europa ein realistisches Szenario ist”
Claudia Major erklärt ohne jede Begründung, dass Russland den INF-Vertrag zerstört habe. Sie argumentiert stets so, dass die Nato nur auf Russland reagiert, das alleine „massiv aufgerüstet“ hat, weswegen eine „Fähigkeitslücke“ entstanden sei, als habe es die Aufkündigung des ABM- und INF-Vertrags durch die USA sowie die Stationierung des Raketenabwehrschilds in Rumänien und Polen nicht gegeben. Das ist nicht wissenschaftlich, sondern strategische Kommunikation. Weiter schreibt sie:
„Die Stationierung ist eine Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine. Die Europäer erkennen an, dass ein Krieg in Europa ein realistisches Szenario ist. Denn aus russischer Sicht ist der Einsatz militärischer Gewalt nicht nur legitim, sondern auch effizient.“ Wie gesagt, die Stationierung der Raketen war bereits vor dem Krieg geplant. Man könnte von Desinformation der SWP-Wissenschaftlerin sprechen. Ich habe in folgenden Sätzen Russland durch die Nato ersetzt, was die wenig objektive Argumentation deutlich macht, schließlich sehen sich beide Seiten von der jeweils anderen bedroht:
„Bislang hat die Nato die direkte militärische Auseinandersetzung mit Russland vermieden – aber sie bereitet sich darauf vor: Sie hat auf Kriegswirtschaft umgestellt, priorisiert die Rüstungsproduktion, bereitet die Gesellschaft auf Krieg vor und verfolgt eine Taktik der hybriden Nadelstiche gegen Russland, inklusive Propaganda.“
Major sieht einen dritten Grund für die Stationierung der weitreichenden Raketen: „Die Europäer ziehen Lehren aus dem russischen Vorgehen in der Ukraine. Und eine Lehre ist die große Bedeutung von Waffen, mit denen man weit ins gegnerische Hinterland zielen kann, zum Beispiel um Nachschub zu unterbrechen.“ Aus der Kriegsperspektive ist richtig, dass Russland und die Ukraine auf Waffen setzen, die weit über die Front hinausreichen. Dabei wird auch zivile Infrastruktur von beiden Seiten gezielt zerstört, zivile Opfer werden als Kollateralschaden akzeptiert. Das dient nicht der Verteidigung, sondern dem Angriff. Aus den Angriffsmöglichkeiten sollen mithin die „Lehren“ gezogen werden, selbst solche Kapazitäten präventiv zu besitzen, weil im Nato-Verbund diese natürlich schnell bereitgestellt werden könnten.
Major plädiert unverhohlen für präventive Angriffe, also für einen Angriffskrieg: „Flugabwehrsysteme reichen nicht, um Nato-Territorium zu schützen, zum Beispiel vor Angriffen auf kritische Infrastruktur. So hart es klingt: Im Ernstfall müssen Nato-Staaten auch selbst angreifen können, zum Beispiel um russische Raketenfähigkeiten zu vernichten, bevor diese Nato-Gebiet angreifen können, und um russische Militärziele zu zerstören, wie Kommandozentralen.“
Die einen mögen solche Aussagen als Reaktion auf russische Bedrohung und die Notwendigkeit der Abschreckung sehen, wenn man allerdings einbezieht, dass die USA und die Nato auch schon lange vor dem Krieg mit dem Aufrüsten begonnen haben, lässt sich die Stationierung von nuklear aufrüstbaren Mittelstreckenraketen auch als Bedrohung Russlands sehen. Das um so mehr, als das Wettrüsten 2002 mit dem einseitigen Ausstieg der USA aus dem ABM-Vertrag und dem Aufbau des amerikanischen Raketenabwehrschilds (National Missile Defense – NMD) mit den Ablegern in Rumänien und Polen (ursprünglich sollte das zweite Bein in der Tschechischen Republik sein) erfolgte.
Das musste Russland als Bedrohung sehen, weil das strategische Gleichgewicht damit untergraben wird, und hat begonnen, in Raketentechnik wie Hyperschallraketen zu investieren, die den Abwehrschild austricksen kann. Das Bestreben, die Nato nicht noch näher mit Raketen an Russlands Grenzen heranzulassen und die Ukraine zur Neutralität zu verpflichten, endete im Krieg, den die USA und Nato mit provoziert hatte.