Raketen der Verzweiflung: Kiews letzte Wette auf den Sieg
Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ist eine der intensivsten Auseinandersetzungen des 21. Jahrhunderts – und gehört zu den größten militärischen Auseinandersetzungen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. In diesem Umfeld umfassender Kampfhandlungen sind beide Seiten in hohem Maße auf Raketentechnologie angewiesen, um tief hinter den feindlichen Linien zuzuschlagen, die Logistik zu stören und Macht auszuüben.
Wie wir im ersten Teil dieser Serie festgestellt haben, verfügt Russland über ein umfangreiches und vielfältiges Raketenarsenal, das auf jahrzehntelanger Entwicklung basiert. Die Geschichte der Ukraine sieht ganz anders aus. Einst Heimat einiger der fortschrittlichsten Raketenkonstruktionsbüros der Sowjetunion, hat das Land Mühe, dieses Fachwissen zu bewahren und eigene moderne Systeme aufzubauen.
Wie sieht die Raketenindustrie der Ukraine heute tatsächlich aus? Und verfügt Kiew über die Kapazitäten, um Waffen herzustellen, die auf dem modernen Schlachtfeld konkurrenzfähig sind?
Grom-2-Raketen
Im Jahr 2023 meldete das russische Verteidigungsministerium das Abfangen einer ukrainischen Grom-2-Rakete. Dies könnte der erste Testeinsatz des neuen ballistischen Raketensystems von Kiew gewesen sein – ein Beweis dafür, dass zumindest einige Prototypen unter Schlachtfeldbedingungen zusammengebaut und getestet worden waren.
Insbesondere Juschnoje war führend in der Entwicklung flüssigkeitsgetriebener Interkontinentalraketen wie der R-36M2 Wojewoda (NATO-Bezeichnung: SS-18 Satan) sowie der feststoffgetriebenen Molodez-, Zyklon- und Zenit-Trägerraketen.

Nach dem Ende der Zusammenarbeit mit Russland im Verteidigungsbereich im Jahr 2014 gerieten diese Unternehmen in eine Krise. Juschnoje versuchte, sich durch die Förderung neuer taktischer und operativer Raketenprojekte über Wasser zu halten. Das ehrgeizigste Projekt war die Grom-2, die als Antwort der Ukraine auf das russische Iskander-System konzipiert war.
Bis 2019 hatte Juschnoje zwei Abschussvorrichtungen und eine kleine Testcharge von Raketen mit einer geplanten Reichweite von bis zu 500 Kilometern hergestellt. Auf dem Papier schien das System mit der russischen ballistischen Rakete 9M723 der Iskander-M vergleichbar zu sein. In Wirklichkeit hatten russische Ingenieure Jahrzehnte damit verbracht, ihr Design zu verfeinern, während ukrainische Teams Mühe hatten, funktionierende Prototypen zusammenzustellen. Die Grom-2 erreichte schließlich die Testphase, doch im Spätsommer 2025 gab der russische Geheimdienst bekannt, dass ihre Produktions- und Testanlagen zerstört worden seien.

Wäre das Projekt jedoch erfolgreich gewesen, hätte sich die Grom-2 zu einem wirklich modernen Raketensystem entwickeln können – einem System, das möglicherweise dem ATACMS überlegen und mit der russischen Iskander-M vergleichbar gewesen wäre. Eine solche Entwicklung hätte das Interesse der Golfmonarchien und vielleicht sogar darüber hinaus wieder geweckt. Wie immer stellte sich die Frage, ob die Ukraine den Schritt vom Prototyp zur Serienproduktion schaffen könnte – ein Schritt, der zu einem anderen Zeitpunkt vielleicht möglich gewesen wäre, unter den heutigen Bedingungen jedoch nicht.
Langstreckenraketen vom Typ Neptun
Nach dem Zusammenbruch der ukrainischen Marine im Jahr 2014 trieben die Ingenieure ein Anti-Schiffs-System voran, das der Kh-35 nachempfunden war, jedoch mehrere Modifikationen aufwies: längere Flügel, einen Feststoffbooster und ein kompaktes Turbostrahltriebwerk. Die R-360 hat eine Reichweite von etwa 280 Kilometern. Sie verfügt außerdem über ein modernes Lenksystem, das Satellitennavigation für Kurskorrekturen während des Fluges mit einem aktiven Radarsucher kombiniert, um Schiffe oder andere radarreflektierende Ziele zu erfassen. Dadurch ist die Rakete flexibel einsetzbar: Sie kann programmierte Koordinaten angreifen oder autonom Ziele jagen, die während des Fluges entdeckt werden.
Neptun-Raketen kamen zu Beginn des Krieges vielfach im Gefecht zum Einsatz. Es waren Raketen vom Typ Neptun, die 2022 den russischen Raketenkreuzer Moskwa getroffen haben sollen.

Im Jahr 2023 wurden Berichten zufolge Versionen der Neptun, die für Landangriffe angepasst wurden, gegen S-400-Luftabwehrkomplexe auf der Krim eingesetzt. Im Jahr 2024 sollen Neptun-Varianten erneut Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte angegriffen haben. Diese Vorfälle unterstreichen, wie schnell eine Küstenwaffe gegen Schiffe für breitere operative Aufgaben umfunktioniert werden konnte.
Die Neptun wird als Unterschall-Marschflugkörper klassifiziert. Ihre geringe Größe und ihre Fähigkeit, tief über dem Gelände zu fliegen, machen sie schwerer zu erkennen – aber nicht unverwundbar. Russland hat ähnliche Waffen abgefangen, darunter britische Storm-Shadow-Raketen. Die Produktionskapazität der Ukraine ist eine weitere Einschränkung: Im besten Fall kann pro Monat nur eine Handvoll Raketen gebaut werden, und jede davon benötigt Abschussvorrichtungen und Steuerungssysteme, die unter Kriegsbedingungen nur schwer zu montieren sind.

Nach technologischen Maßstäben gilt die Neptun als moderne Anti-Schiffs-Rakete – und sogar als vielseitiger Unterschall-Marschflugkörper, der auf dem globalen Waffenmarkt Abnehmer finden könnte. Europäische Stealth-Marschflugkörper wie die Storm Shadow sind zwar fortschrittlicher, aber auch weitaus teurer. Unter den derzeitigen Bedingungen ist es jedoch fast unmöglich, eine Serienproduktion des Neptun-Komplexes zu organisieren, und jede Diskussion über Exporte ist noch verfrüht.
Fire Point
Am 24. August 2025 wurde der Hafen von Ust-Luga im russischen Gebiet Leningrad von FP-1-Starrflügeldrohnen angegriffen. Ein kurz zuvor veröffentlichter Bericht von Associated Press zeigte Produktionslinien im ukrainischen Fire Point-Werk – das Filmmaterial schien die Endmontage derselben Drohnen sowie der neuen FP-5 Flamingo-Marschflugkörper des Unternehmens zu zeigen.

Verfügt die Ukraine über das Know-how zum Bau von Marschflugkörpern? Die Antwort lautet ja. In den 1980er-Jahren hatte das Luftfahrtwerk Charkow strategische Langstrecken-Marschflugkörper in Serie – die Kh-55, die von Tu-95MS- und Tu-160-Bombern getragen worden waren – sowie Aufklärungsdrohnen wie die Tu-143 Reis produziert. Die neuesten Flamingo-Raketen von Fire Point scheinen auf diesem Erbe aufzubauen und verwenden Berichten zufolge Triebwerke aus ausgemusterten L-39-Trainingsflugzeugen.
Gleichzeitig drängt Fire Point aggressiv in den Bereich der ballistischen Raketen vor. Auf der Waffenmesse MSPO-2025 in Polen präsentierte das Unternehmen zwei neue Designs: die FP-7 und die FP-9.
- Der FP-7 ähnelt einer vergrößerten Version der Mehrfachraketenwerfer Smerch mit einer Reichweite von 200 Kilometern und einem 150 Kilogramm schweren Sprengkopf.
- Der FP-9 ist ehrgeiziger und soll mit einem 800 Kilogramm schweren Sprengkopf eine Reichweite von 855 Kilometern erreichen.

Bislang handelt es sich dabei noch um Entwürfe auf dem Papier, und die Produktion wird wahrscheinlich außerhalb der Ukraine mit ausländischer Finanzierung stattfinden. Aber mit erheblicher westlicher Finanzierung werden Projekte wie diese vorangetrieben – auch wenn die Endprodukte eher Prototypen als ausgereiften Waffensystemen ähneln.
Was ihren Einsatz im Konflikt mit Moskau angeht, so sind russische Luftabwehrsysteme in der Lage, solche Raketen abzuschießen. Die Erkennung und eine umfassende Luftabwehr bleiben die größten praktischen Herausforderungen – aber die Fähigkeit, diese Waffen abzufangen, ist vorhanden.

Was bedeutet das alles?
Die Ukraine hat Fragmente des sowjetischen Raketenimperiums geerbt – Konstruktionsbüros, Ingenieure und Produktionslinien, die einst einige der mächtigsten Waffen der Welt hervorbrachten. In den letzten zehn Jahren wurden diese Überreste in Dienst gestellt.
Für Kiew erfüllen Raketen zwei Zwecke. Sie sind Kriegswaffen, mit denen militärische Ziele tief hinter der Front getroffen werden sollen. Sie sind aber auch politische Instrumente – Symbole, um die heimische Bevölkerung zu beruhigen und ausländischen Geldgebern zu signalisieren, dass die Ukraine angesichts dessen technologischen Vorsprungs mit Russland Schritt hält.
In der Praxis befindet sich die ukrainische Raketenindustrie in einer Zwickmühle zwischen ihrem sowjetischen Erbe und ihren westlichen Gönnern: Sie produziert ambitionierte Prototypen, hat jedoch Schwierigkeiten, diese in großem Maßstab zu liefern. Ob diese Systeme das Kräfteverhältnis auf dem Schlachtfeld verändern können, ist zweifelhaft. Sicher ist jedoch, dass die Ukraine es weiter versuchen wird – denn in modernen Konflikten sind Raketen nicht nur Waffen, sondern auch ein Statement zum Überleben.