Spiel mit dem Atomknopf
Die NATO hat ihre Kriegsrhetorik in den Turbomodus geschaltet. Es geht dabei weniger um Donald Trumps an Moskau gerichtetes Ultimatum, binnen 50 Tagen für eine Waffenruhe in der Ukraine zu sorgen, das der US-Präsident am Montag auf zehn bis zwölf Tage verkürzt hat. War anfänglich die Rede davon, dass Russland die westliche Allianz Mitte des kommenden Jahrzehnts angreifen könnte, wurde diese Frist inzwischen von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und NATO-Generalsekretär Mark Rutte auf 2029 vorverlegt. Und Donald Tusk, Regierungschef Polens, hat den Zeithorizont jetzt nochmals verkürzt: Schon 2027 könne Russland die NATO überfallen, so der polnische Premier nach Gesprächen mit dem NATO-Oberbefehlshaber Alexus Grynkewich.
Woher Grynkewich diese Ahnung nimmt, blieb sein Geheimnis. Warum Tusk die Panikmeldung prominent verbreitete, kann man sich denken. 2027 ist das Jahr, in dem Tusks Regierung sich turnusmäßigen Parlamentswahlen stellen muss – einstweilen ohne große Erfolgschancen. Da bietet es sich an, die russische Sau durchs polnische Dorf zu treiben und sich damit Ruhe an der Heimatfront zu verschaffen – und jede innenpolitische Kritik in die Nähe russischer »Hybridkriegführung« zu rücken. So kurz, so banal aus Tusks Sicht.
Wie wenig Substanz solche Tatarenmeldungen vermutlich haben, wird noch aus einem anderen Aspekt deutlich: Wenn Tusk seine Weisheit tatsächlich vom NATO-Oberbefehlshaber bezogen haben sollte, würde dies bedeuten, dass Russland die Ukraine im Laufe dieses oder spätestens des kommenden Jahres besiegt. Denn dass Russland die NATO angreifen würde, während der Krieg in der Ukraine noch im Gange ist, war bisher von allen militärischen Fachleuten ausgeschlossen worden. Ist das also ein Eingeständnis der absehbaren eigenen Niederlage durch die Hintertür – und gleichzeitig ein medialer Entlastungsangriff an anderer Stelle?
Vielleicht. Darauf deutet die auch in dieser Zeitung schon analysierte Ansprache von US-General Christopher Donahue Ende Juni in Wiesbaden hin. Vor einem Publikum aus Militärs und Industrievertretern prahlte der Chef der NATO-Landstreitkräfte in Europa damit, dass die Kriegsallianz inzwischen die Mittel habe, russische »Zugangskontrollblasen« wie das Gebiet Kaliningrad von Land aus zu stürmen und innerhalb »ungeahnt kurzer Zeit auszuschalten«.
Dass Donahue keine Details ausplauderte, ist klar und gehört zum Geschäft. Aber seine angeblich aus dem Ukraine-Konflikt geschöpften Erfahrungen sind genau vor dem Hintergrund des dortigen Krieges nicht unbedingt Argumente für seine Behauptung. Heute seien »Landoperationen in ungeahnter Geschwindigkeit« möglich? Die Dominanz der Drohne auf dem Gefechtsfeld, die größere mechanisierte Bewegungen beider Kriegsparteien lähmt, deutet eher auf das Gegenteil hin. Und die Ukraine habe bewiesen, dass man »von Land aus eine überlegene Marine ausschalten« könne? Auch zweifelhaft und jedenfalls nicht aus dem ukrainischen Szenario ableitbar. Ja, die Ukraine hat Russlands Schwarzmeerflotte empfindliche Verluste zugefügt und ihr faktisch das Heimatmeer als Operationsraum bestritten. Aber sie tat das aus einer nicht unmittelbar umkämpften Position an Land heraus, nicht im Zuge von Kampfhandlungen, die das Ziel hätten, russische Marinebasen sozusagen durch die Hintertür, von der Landseite her, zu erobern.
Aussagen von NATO-Prominenten wie den zitierten sind überdies zweischneidig. General Donahue sagte es den Industrievertretern in Wiesbaden gewissermaßen ins Gesicht: Wir haben Ihnen gesagt, was wir brauchen, Ihre Aufgabe ist es, zu liefern. Um Bertolt Brecht zu zitieren: »Ja, mach nur einen Plan …« Wenn der Bedrohungszeitraum so sehr verkürzt wird, dass er mit den öffentlich bekannten Lieferfristen selbst für technisch durchentwickelte Systeme wie die »Patriot«-Raketenwerfer in Konflikt gerät, kann sich auch das gutwilligste Publikum die Frage stellen, ob das überhaupt noch zu gewinnen sei. Zumal, wenn Spezialisten wie Bundesmaskenminister Jens Spahn als schlimmste Folge eines russischen Angriffs ausmalen, dass »wir Russisch lernen müssen, wenn wir uns nicht verteidigen wollen«. Wenn man eine Schraube zu weit festdreht, kann sie plötzlich durchdrehen.
Einen Effekt haben Reden wie die von Donahue bereits gehabt: Prominente russische Politiker wie der Abgeordnete Leonid Sluzki haben angemerkt, dass der Westen mit dem Atomkrieg spiele, wenn er über eine Eroberung der Kaliningrader Region nachdenke. Ein Angriff auf russisches Staatsgebiet sei eine der Voraussetzungen, die die russische Nukleardoktrin für den Einsatz von Atomwaffen nenne.