Westliche Werte-Mythen und Durchhalteparolen für Ossis – Erzählungen zum Tag der Einheit
Der sogenannte "Tag der Deutschen Einheit" steht bevor. Das ist die Zeit, in der sich der westdeutsche Mainstream mal wieder mit dem Ossi befasst. Dieser Ossi, der sich einfach nicht anpassen will: wertewestlich inkompatibel, ein bisschen zurückgeblieben irgendwie und notorisch meckernd. Und blöderweise steht der Ossi auch noch "darüber" und zeigt der großen Politik den Stinkefinger.
Nein, das steht so freilich nicht wörtlich im kürzlich veröffentlichten diesjährigen Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung und Thüringer SPD-Politikers, Carsten Schneider. Doch schon beim Titel des Pamphlets "Ost und West. Frei, vereint und unvollkommen." mag es bei vielen in diese Richtung klingeln: Der ewig unvollkommene Ossi, der die westdeutschen Gaben nicht zu schätzen wisse.
Der Bericht ist einmal mehr der übliche Versuch, den Anschluss der DDR an die BRD am 3. Oktober 1990 als Erfolgsstory des westlichen Kapitalismus zu verkaufen – euphemistisch eingekleidet in die bekannte Floskel "freiheitlich-demokratisch", die heutzutage dem aufmerksamen Beobachter wie bloße Makulatur und eine Durchhalteparole in einem zunehmend neoliberalen Irrenhaus erscheinen muss.
Mit "westlichen Werten" gegen Putin
Die Erzählung von einem dank "friedlicher Revolution" gegen eine böse "DDR-Diktatur" wiedervereinten, neu erblühten Deutschland prägt den Bericht von vorn bis hinten propagandistisch. Nach dieser Blaupause beschreiben "20 Autoren aus dem Ausland und Ost- und Westdeutschland ihre Sicht auf Deutschland" und geben "ein unterhaltsames Bild" zum Besten, wie es Schneider auf der Bundespressekonferenz (BPK) beschrieb.
Zu diesem "unterhaltsamen Bild" trug unter anderem der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis bei, der ausführlich über die "historische Entscheidung" frohlockte, Bundeswehrtruppen dauerhaft in seinem Land zu stationieren. Das wiedervereinigte Deutschland sei, so Landsbergis, "ein außerordentlich wichtiger Partner Litauens auf der bilateralen Ebene in der Politik, Wirtschaft und Kultur, aber auch in der Europäischen Union und der NATO".
Dann phrasierte er von einer "gemeinsamen Ausrichtung der Außenpolitik" auf eine "regelbasierte Weltordnung". Dies sei, man ahnt es, "besonders wichtig, denn in Zeiten der russischen Aggression gegen die Ukraine" müsse man "die transatlantische Partnerschaft stärken", so der litauische Minister.
"Ossi-Forscher" wünschen sich mehr Dankbarkeit
Auch Lech Walesa, in den frühen 1990ern Staatspräsident Polens, wurde reaktiviert, um etwa gegen "den Verbrecher Putin" zu ätzen und ein Loblied auf die gemeinsame "Ukraine-Unterstützung" anzustimmen.
Bereits im Vorwort behauptet Michael Hüther, Aufsichtsratschef der TÜV Rheinland AG und im Vorstand der Atlantik-Brücke sitzend, die Ansiedlung multinationaler Großkonzerne wie Tesla seien der Motor schlechthin, um Ostdeutschland zum Blühen zu bringen – frei nach dem Motto: jetzt aber wirklich!
Die altbekannte akademische "Ossi-Forschung" aus den Federn von Politologen, Soziologen und anderen politisch korrekten Geisteswissenschaftlern kam nicht zu kurz. Eintöniger Slang: Die Westdeutschen hätten den ehemaligen DDR-Bürgern die glückselig machende "Freiheit und Demokratie" geschenkt. Nicht nur unterschwellig schwingt der Vorwurf an die Ossis mit: Nun seid doch endlich mal dankbar dafür!
Unterprivilegierte "Jammer-Ossis"
Im Subtext finden sich jedoch auch ein paar Fakten, die den Lobliedern auf das wiedervereinte und -erstarkte Deutschland deutlich widersprechen. Die Autorinnen Charlotte Bartels und Theresa Neef belegen etwa die "anhaltende wirtschaftliche Teilung Deutschlands". Auch nach 34 Jahren seien "die wirtschaftlichen Ressourcen" der Ostdeutschen viel geringer als die der Westdeutschen. Dazu heißt es beispielsweise:
"Ostdeutsche Löhne liegen noch immer knapp 30 Prozent unter den westdeutschen Löhnen. Das durchschnittliche Vermögen der ostdeutschen Haushalte beträgt weniger als 50 Prozent des westdeutschen Durchschnitts."
Dem zum Trotz verklärt Schneider die Ergebnisse einer Umfrage im Sinne der Herrschaft: "Eine große Mehrheit der Befragten steht hinter unseren freiheitlich-demokratischen Grundrechten und wünscht sich, dass diese in unserer Gesellschaft auch gewährleistet sind." Hier könnte man sich fragen: "Ach so, hapert es daran etwa?" Der Ostbeauftragte deutete das gegenüber der dpa jedoch ganz anders: Da sei es doch "erschreckend" und "alarmierend", dass die AfD dennoch so große Wahlerfolge im Osten erzielt.
Denn eigentlich, so könnte man nun zwischen den Zeilen lesen, seien die Ossis irgendwie auch selbst Schuld an ihren ökonomischen Problemen und keineswegs das ihnen übergestülpte System. Schneider hält "nichts davon, den Ostdeutschen einzureden, sie seien Opfer". Sie seien vielmehr "diejenigen, die sich selbst ermächtigt haben in den letzten 35 Jahren". Da ist er wieder, der zu Unrecht "ewig jammernde Ossi".
Selbstbeweihräucherung statt Analyse
Mit anderen Worten: Eine halbwegs selbstkritische Analyse ist auch 34 Jahre nach dem Anschluss der DDR an die BRD, manche sprechen auch von Annexion, nicht zu erwarten. Stattdessen gibt es das gewohnte Menü: abenteuerliche Realitätsflucht und Selbstbeweihräucherung.
Das kennt man seit langem nicht anders von den Regierenden in Deutschland. Da wird phrasiert, was das Zeug hält, jeder wirtschaftliche Niedergang noch schöngeredet, jede soziale Schweinerei als Notwendigkeit und kriegerische Aufrüstung als "Sicherheitspolitik" verkauft, während ein riesiger Propaganda-Apparat Mythen und faustdicke Lügen zur "Wahrheit" aufbläst. Mit Hetze gegen unterprivilegierte Gruppen kennt man sich in Regierungskreisen ohnehin seit langem bestens aus – teilen und herrschen eben.
Man kann davon ausgehen: So manch ein Ossi wird über diesen alle Jahre wieder neu aufgewärmten Brei nur müde lächeln. Gefragt wird er ja ohnehin nicht. Da bleibt ihm eigentlich nur noch der Stinkefinger gegen die vereinte Armada aus wertewestlichen Jubelpersern und Phrasendreschern.